Konnotationen des Begriffs in der Sozialwissenschaft

Ann Katzinski (MA Sozialwissenschaften)
Malte Müller (MA Medieninformatik)

Was wird untersucht?

Der Begriff der Grenze

Der Begriff „Grenze“ ist eingebettet in das Substantiv „grenze*“ sowie den Wortstamm „grenz*“. Dabei sind in den beiden großen “Töpfen” Prä- und Suffixe zulässig. Dies wird beispielhaft sichtbar in der Abbildung 1. Für die weitere Analyse wird zunächst die Häufigkeit oder bildlich die Größe dieser Töpfe im Verhältnis zum Untersuchungsgegenstand ausgewertet.

Journale der Sozialwissenschaft

Der  Untersuchungsgegenstand des Forschungsprojektes sind je drei soziologische und politikwissenschaftliche Journale von 2000-2019. Es zeigt sich, dass in ca. 68 Prozent der 5426 Artikel mindestens einmal der Wortstamm “grenz*” und in 45 Prozent der Artikel “grenze*” vorkommt. Diese Artikel werden für den weiteren Verlauf in ihre Sätze aufgesplittet, um später eine detaillierte Analyse zu ermöglichen. Dabei zeigt sich, dass in 1,2 Prozent der knapp 1,8 Millionen Sätze der Wortstamm “grenz*” verwendet wird. Davon entfällt ein Anteil von 0,4 Prozent auf das Substantiv “grenze*”.
Auf Basis des hohen Anteils von “grenze*”, welcher eine schärfere Zuspitzung der Forschungsfrage ermöglicht, wird sich in den nächsten Auswertungen nur den weiteren Eigenschaften von “grenze*” gewidmet.

Abbildung 1: Einbettung des Begriffs der „Grenze“

Welche Begriffe der „grenze*“ sind relevant?

In der näheren Betrachtung wie genau „grenze*“, also mit welchen möglichen Prä- und Suffixen es in den Sätzen der Journale verwendet wird, zeichnet sich ein klares Bild ab (Abbildung 2). ‘Grenze*n’ überwiegt mit 77 Prozent an den Journalen der Sozialwissenschaft in der Einheit Sätze. Ergänzend werden ‘Altersgrenze’, ‘Armutsgrenze’, ‘Obergrenze’ sowie ‘Außengrenze*n’ lediglich in jeweils zwischen 1-2 Prozent der Sätze verwendet. Die anderen Verwendungen liegen in der prozentualen Häufigkeit je Anwendungsfall niedriger, sodass hier 17 Prozent nicht erklärt sind.

Abbildung 2: Verteilung der prozentualen Anteile der „grenze*“ mit Prä- und Suffix, alle Journalen der Sozialwissenschaft, Einheit Sätze

Welche Wörter werden mit „grenze*“ in einem Satz verwendet?

Die Dominanz von ‘Grenze*n’ spiegelt sich auch im nächsten Schritt: Hier werden alle Wörter in einem Satz mit dem jeweiligen “grenze*”-Wort korreliert, sofern sie kein sogenanntes Stopp-Wort darstellen. Beispiele wären ‘als’, ‘und’ ‘auch’, da sie selbst keinen Informationsgehalt besitzen. In der Auswertung zeigt sich, dass die hier am häufigsten auftauchenden Wörter wie beispielsweise ‘möglichkeit’, ‘politisch’ und ‘sozial’ alle mit ‘Grenze’ korrelieren. Diese “Top 10” mit ‘Grenze’ sind in der Abbildung 3 einsehbar. Hier zeigt sich der Erklärungsanteil an dem zuvor analysierten Wort ‘Grenze*n’. Das heißt mit einer Wahrscheinlichkeit von 34 Prozent kommt eines dieser Wörter in einem Satz mit ‘Grenze*n’ vor.

Abbildung 3: Absolute Häufigkeit der Top 10 Korrelationen mit „grenze*“, alle Journalen der Sozialwissenschaft, Einheit Sätze, Ergebnis: Alle Top 10 Wörter korrelieren hier mit „grenze*“ als „grenze“

Welche zwei Wörter werden mit “grenze*” in einem Satz verwendet?

Im nächsten Schritt wird je Satz mit “grenze*” nach Korrelationen von zwei weiteren Wörtern gefiltert. Die häufigsten Kombinationen decken sich in der Rangfolge nach Sätzen als auch nach Artikel und sind in der Abbildung 4 einsehbar. Dabei zeigt sich in einer ersten Betrachtung, dass aus drei der Verbindungen zuvor keines der Wörter in der Analyse aufgetaucht ist (in der Abbildung weißer Hintergrund). Dem gegenüber sind vier Kombinationen vertreten, aus denen bereits beide Wörter bekannt sind (in der Abbildung grün hinterlegt).
Bei den Restlichen hat sich in der Bildung aus zwei Wörtern ein neues mit einem bereits bekannten verbunden. ‘[P]olitisch’ bildet dabei viermal das Gegenstück; und zwar mit den Wörtern ‘national’, ‘politische’ und ‘möglichkeit’. Die vierte Korrelation ist mit dem ebenfalls in der vorangegangenen Analyse korrelierten Wort ‘sozial’. Auch dieses hat mit ‘kulturell’ und ‘gruppe’ noch weitere Korrelationswörter in der „grenze*”  Kategorie.

Zudem lässt die vorliegenden absolute Häufigkeit, also wie häufig eine Kombination über alle sozialwissenschaftlichen Journale als auch in den einzelnen Journalen auftaucht, ein Sättigungspunkt erkennbar. Die abgebildeten Korrelationen in dem Graphen tauchen in mindestens 20 verschiedenen Artikeln auf, während das Maximum bei 53 verschiedenen Artikeln liegt (Abbildung 5). 

Abbildung 4: die häufigsten Korrelationen aus zwei Wörtern mit „grenze*“, alle Journalen der Sozialwissenschaft, Einheit Sätze

Stichprobenziehung

Mit dem Erreichen eines Sättigungspunktes wird an dieser Stelle eine Stichprobenziehung für die inhaltliche Analyse vorgenommen. Dafür wird im Hintergrund das Verhältnis der soziologischen als auch der politikwissenschaftlichen Journale, die zusammen den Untersuchungsgegenstand bilden, in jedem Schritt kontrolliert. Für die weiterführende Beantwortung der Forschungsfrage werden sich aus allen drei Bereichen, das heißt einer politikwissenschaftlichen und einer soziologischen dominierten sowie einer ausgeglichenen Korrelation die Artikel in der folgenden qualitativen Untersuchung näher angeschaut. Ausgeglichen orientiert sich dabei an dem Gesamtanteil einer Journalgruppe der Grundgesamtheit ‘Sozialwissenschaft’ und wird mit plus / minus 10 Prozent um diesen Punkt definiert. Für die Sicherstellung einer Diversität auch innerhalb der Journale wird diese Bedingungen ergänzt, um mindestens zwei vorhandene Artikel jedes Journals und der jeweils erste und letzte Artikel des Journals gezogen. In der Ziehung dieser Stichprobe fällt auf, dass kein Artikel zwei Mal vorkommt und somit kein Artikel zwei verschiedene Korrelationen beinhaltet. Es werden ‘deutlich I zeigen’, ‘national I hinweg’ und ‘eng I setzen’ gezogen. Die Stichprobe ist nur gültig, sofern diese mit ‘Grenze’ korrelieren. Der Plural wird hier ausgeschlossen. Dadurch minimiert sich die Stichprobe von 36 auf 34 Artikel.

Abbildung 5: Absolute Häufigkeit der Anzahl der Artikel, in denen die Korrelation mit „grenze*“ vorkommt, nach Journalen, Einheit Artikel

Die Artikel aus der Stichprobe werden in dem Absatz, in dem “grenze*” mit den zwei Wörtern korreliert, qualitativ analysiert. Das heißt, der Begriff der „Grenze“ wird unter Anwendung der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse in seinem Kontext untersucht und in seiner Konnotation aufbauend auf dem Modell von Andreas Reckwitz interpretiert. Dabei ist die grundlegende Idee, dass über die Unterscheidung im Duden hinaus die kultursoziologische Perspektive von Andreas Reckwitz konkrete Rückschlüsse auf die Einbettung des Begriffs ermöglichen. In seinem Buch „Unscharfe Grenzen: Perspektiven einer Kultursoziologie“ widmet er sich der Konnotation des Grenzbegriffs in Anlehnung an die englische Differenzierung (2010). Das heißt, wo wir im Deutschen nur das Wort „Grenze“ anwenden, findet im Englischen eine Trennung zwischen „border“, „boundary“ und „limit“ statt (ebd., 302). Diese drei Begriffe unterscheiden eine territoriale Auslegung, eine symbolische Betrachtung sowie eine normativ/ asymmetrische Trennung (in der Reihenfolge, ebd.) und können damit in der Definition Reckwitz an die festgelegten Bedeutungen des Dudens angeknüpft werden. Die theoretische Herleitung als auch die Bedingungen für die einzelnen Kategorien können dem Modell (Abbildung 6) entnommen werden. 

Abbildung 6: Grundlage für die Bildung der Haupt- und Subkategorien

* Die Verweise, Definitionen und Beispiele sind alle zitiert und von https://www.duden.de/rechtschreibung/Grenze (letzter Zugriff 04.12.2020) übernommen.

**Reckwitz 2010, 302

Wie wird der Begriff der Grenze konnotiert?

In einer Betrachtung der Verteilung der Konnotationsformen ‘border’, ‘boundary’ und ‘limit’ in der Sozialwissenschaft zeigt sich ein Gleichgewicht der Stichprobe in den Hauptkategorien. Die Konnotation von „border“ überwiegt zwar mit 39 Prozent Anteil, beinhaltet jedoch auch alle Korrelationen mit „national I hinweg“. Hingegen ist die Verteilung der anderen beiden Korrelationen nicht nur einer Kategorie zuordnen. Es lässt sich also nicht von der Korrelation direkt auf die Konnotation schließen. Innerhalb der Gesamtverteilung haben diese beiden Konnotationen von „Grenze“ 34 Prozent (‘boundary’) und 27 Prozent (‘limit’) Anteil an der analysierten Stichprobe. Damit werden sie als nahezu ausgeglichene Anteile betrachtet, sodass sich zeigt, dass alle drei Konnotationsformen in der Sozialwissenschaft einen gleichen Anteil haben. In der Betrachtung der Subkategorien sind jedoch erste Unterschiede sichtbar (Abbildung 7).

Abbildung 7: Verhältnis der Häufigkeit der Subkategorien in der Analyse der Konnotation, Stichprobe der 34 Artikel

Welche Rückschlüsse sind in diesen Kategorien möglich?

Im Vergleich dieser Kategorien wird die Diversität des Begriffs als auch die Differenzen der Konnotationen deutlich. Unter Betrachtung der Sozialwissenschaft fällt auf, dass hier „Grenze“ im Kontext in allen drei Konnotationen trotz dessen in seiner Flexibilität gleicht. Das heißt, dass der Vergleich, der aufzeigt, dass die unterschiedlichen Kontexte gleichzeitig auch immer einen möglichen Verhandlungsprozess der „Grenze“ auf allen Ebenen mitdenken lassen. In der inhaltlichen Betrachtung und der Analyse der Kontexte, in denen die unterschiedlichen Konnotationen eingebettet sind, zeigen sich konkret folgende Tendenzen der Hauptkategorien: 

 

Border

Die Kategorie „border“ umfasst ausschließlich Kontexte territorialer Grenzen, die nicht in ihrer Materialität beschrieben werden. Zudem befassen sich über 90 Prozent der Artikel mit der Veränderung nationaler Grenzen und der Auswirkung davon. Das heißt, es wird kaum eine spezifische Landesgrenze betitelt. Inhaltlich ist auffällig, dass angetrieben durch die Globalisierung verschiedene Kontexte als Folge die Auflösung nationaler Grenzen thematisieren. Dies ist der Fall in internationaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit oder den Möglichkeiten grenzübergreifender Kommunikation. Darin zeigt sich, dass diese Grenzen auch immer etwas im Innern festgehalten haben, was sich in den letzten Jahren über Grenzen hinweg entwickelt hat: Zusammenarbeit und Kommunikation. Auf der anderen Seite hat diese Entgrenzung die Gefahr, gesellschaftliche Überforderung hervorzurufen. Dies führt in den analysierten Kontexten dazu, den geschwächten Nationalstaat und seine politische Handlungssouveränität zu fordern, dafür einzustehen. Das heißt, hier wird ein Phänomen der nationalen Grenze sichtbar, welches der Untersuchung Wendy Browns (2018) entspricht. Mit dem Konzept der nationalen Grenze geht verknüpft sich das Paradoxon des Sehnens nach staatlichem Schutz und individueller und wirtschaftlicher Freiheit.

 

Boundary

Die Kategorie „boundary“ kennzeichnet sich durch zwei Formen der Separierung. Zum einen der Abgrenzung zweier Dinger auf Basis ihrer Definitionen, zum anderen auf Basis zweier Interessen. Das Zweite lässt dabei annehmen, dass „Grenze“ verhandelbar ist und damit einen Separationsstreifen inkludiert. Innerhalb dieses können Kompromisse gefunden und Separationsgrenzen neu gesetzt werden. An diese Separation schließt auch die Symbolik der Grenze an. Diese wird beim Vergleich der Anwendungen in der Sozialwissenschaft für „etwas ist möglich“ oder „etwas ist nicht möglich“ verwendet, welche darin auch ein Paar des Gegensatzes bilden. Ähnlich wird „Grenze“ hier symbolisch für das Erleben des schmalen Grats zwischen zwei unterschiedlich definierten Welten, der Realität und der Phantasie verwendet. Diese Erfahrung schließt damit an die Idee des auszuhandelnden Separationsstreifens an, der Rahmen, in dem man sich bewegt, ist beschränkt und verhindert das Erleben einer Welt oder eben das Umsetzen eines Interesses.  

 

Limit

Die Kategorie „Limit“ steht hingegen für die Begrenzung von etwas. Diese wird in den ausgewerteten Konnotationen kontextübergreifend, also gesellschaftlich, politisch und persönlich deutlich. Zentral ist dabei die Folge des Überschreitens dieser Grenze, welches unterschiedliche Konsequenzen mit sich zieht. Die Grenzziehung erfolgt dabei auf der jeweiligen Kontextebene. Das heißt, eine gesellschaftlich gesetzte Norm oder Regel hat das Interesse ein soziales Gefüge zu definieren und Übertritte oder Eingriffe von außen zu vermeiden. Auf einer legitimierten Ebene, die hier stark politisch präsentiert ist, kennzeichnet sie den Rahmen der Rechtfertigung gegenüber der Gesellschaft als auch der übergreifenden Zusammenarbeit. Daddurch sichert sie ein absehbares interessengeleitetes Handeln. Darüber hinaus wird auf einer persönlichen Ebene der Grenzübertritt als realitätsfern oder Definition des zu Vermeidenden gesetzt. Das heißt, es liegt hinter der Vorstellungskraft des Realistischen oder Ertragbaren. Dabei sind auch diese drei Formen in ihrem jeweiligen Kontext verhandelbar. Auf allen drei Ebenen können die jeweiligen „Grenzziehenden“ diese neu aushandeln und damit öffnen oder strenger definieren. Damit kennzeichnet sich die „Grenze“ in ihrer Flexibilität und Diversität und lässt annehmen, dass sie ständigen Aushandlungsprozessen unterliegt.

Grenze, die

Die Analyse in fünf Schritten (Abbildung 8) bringt hervor, dass der Begriff der „Grenze“ in repräsentativen Journalen der Sozialwissenschaft von 2000 bis 2019 im Vergleich aller Konnotationsformen die Möglichkeit der Verhandlung über den Begriff als auch einen Wandel der Nutzung des Begriffs in allen Kontexten beschreibt. Das heißt, die „Grenze“ wird durchgängig als wandel- und verhandelbar abgebildet. Dies erfordert eine Reflexion über die „Grenze“, im Ziehen und im Setzen und ermöglicht dadurch den „Grenzinhabenden“ als bestimmende persönliche Grenzen, gesellschaftliche Regelung und Normen, Legitimitäten sowie die Wirkung territorialer Grenzen zu beeinflussen und zu verändern.

Ferner hat sich in der Ergebnisinterpretation gezeigt, dass die territorialen Grenzen in der Sozialwissenschaft der letzten 20 Jahre fast durchgängig als nationale und nicht spezifische Ländergrenzen oder in ihrer Materialität eingebettet wurden.

Zudem zeigt sich in der sprachlichen Struktur sowie inhaltlichen Einbettung, dass der Begriff der Grenze immer an den Kontext geknüpft ist, um überhaupt in seiner Konnotation verstanden werden zu können.

Abbildung 8: Schritte der Analyse des Gesamtforschungsvorhabens, Zuspitzung Methode

Das vorliegende Projekt beinhaltet Ausschnitte meines zweijährigen Forschungsprojektes mit dem Titel “Grenze, die. Konnotationen des Begriffs in der Sozialwissenschaft. Eine Mixed-Methods-Analyse sozialwissenschaftlicher Journale 2000-2019.”. Bei Rückfragen zu einzelnen Grafiken, Ergebnissen oder dem Interesse, die Forschungsarbeit zu lesen, schreibt mir gerne eine E-Mail an ann.katzinski@kunstform-wissenschaft.org. Ich freue mich auf Eure Fragen und Rückmeldungen.


Brown, Wendy. 2018. Mauern: die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität. Übersetzt von Frank Lachmann. Erste Auflage. Berlin: Suhrkamp.

„Duden | Grenze | Rechtschreibung, Bedeutung, Definition, Herkunft“. o. J. Zugegriffen 6. Dezember 2020. https://www.duden.de/rechtschreibung/Grenze.

Katzinski, Ann und Malte Mueller. 2019a. „Grenze, die; Graph nach Jahren“. o. J. Zugegriffen 6. Dezember 2020. http://altemei.org/graph_jahr/.

Katzinski, Ann und Malte Mueller. 2019b. „Grenze, die; Graph nach Journalen“. o. J. Zugegriffen 6. Dezember 2020. http://altemei.org/graph_journal/.

Katzinski, Ann. 2020. “Grenze, die. Konnotationen des Begriffs in der Sozialwissenschaft. Eine Mixed-Methods-Analyse sozialwissenschaftlicher Journale 2000-2019.”.

Reckwitz, Andreas. 2010. Unscharfe Grenzen: Perspektiven der Kultursoziologie. 2., unveränd. Aufl. Sozialtheorie. Bielefeld: Transcript-Verl.